Dienstag, 28. Mai 2013

Nummer 2

Ein Grund zum Weinen ist das nicht

Meine Gedanken:
Woran kann man realistisches Kunstwerk von einem naturalistischen unterscheiden? - Genau. Ganz verallgemeinert, von der Möglichkeit darin eine sozialkritische Interpretation festzustellen. Das bedeutet mitunter "gar nicht", da es vom Betrachter abhängig sein kann. 
Wie ich darauf komme? - Weil auch diese Geschichte den Leser fordert. 
Es fing mit einer Eingebung, vielmehr mit der Eingebung einer Geschichte, die ich verworfen hatte, an. (Es kann eben nicht alles gut sein.) Ich fand diese Vision sehr schön, weil sie Vergangenheit beinhaltet, aber keinen Weg in die Gegenwart finden konnte. Sie hält mir vor Augen, wie ich mich selbst weiterentwickelt habe. Daher ist dieser Abschnitt als Thematisierung der Vergangenheitsbewältigung zu verstehen - zumindest in meiner Vorstellung. 
Mit den Andeutungen der "verstoßenen" Geschichte ergibt sich ein vages Konstrukt, das die Fantasie des Lesers anregen soll. Eine Erläuterung der Vergangenheit oder der Zukunft jenseits der beschriebenen Situation ist nämlich nicht geplant. ^^ Es ist nur ein Moment.
Ich möchte nicht nur die Interpretation frei halten (auch wenn ich meine eigenen Idee nun schon dargelegt habe) sondern, dass Fanatasiebegeisterte sich Anfang und Ende selbst zusammenspinnen - und sei es nur in unausgesprochenen Spekulationen. 

Nachdenklich knetete sie ihre Unterlippe. "Es ist lange her, seit wir das letzte mal hier waren." sagte er.
Ja, in der Tat - ein halbe Ewigkeit. Wieder war sie in diesem Gefängnis, an dem einzigen Ort, der einen Ausblick in die Freiheit bot. Von der Krankenstation aus war es nachts möglich sich durch den Bereich zu schleichen, der Lehrern und Betreuern vorbehalten war. In Gedanken lachte sie kurz verächtlich auf. "Lehrer". "Betreuer". Sie waren nichts anderes als die Hüter dieses Experiments. 
Wieso nur war sie freiwillig in diesen Knast zurückgekehrt? Um dieses nostalgische Gefühl zu bekommen, das sie nun verspürte, da die Freiheit kein Zustand war, sondern nur noch ein Duft?...- Eine Sehnsucht...
Mit traurigen Augen sah er sie an. Er wollte reden. Sie wollte schweigen. Ihr Blick wanderte kurz zu ihm. Er bedeutete ihr eigentlich nichts mehr. Erst war es Liebe gewesen, dann wollte sie ihm helfen. Er war ein Freund in Not. Und selbst die kalte Attitüde hatte beide voran gebracht...
Wie lange das wohl her war? Es müssen so um die drei bis vier Jahre gewesen sein. Eine lange Zeit, wenn man noch so jung ist. Wie ein kleiner Junge kam er ihr heute vor. Weniger als je zuvor war er jemand, der in ihre Welt passen würde. Aber darum ging es ja gar nicht. - Sie wollte in seine Welt passen. Nicht wegen ihm. Wegen der Nostalgie. Der Schmerz war damals genauso präsent gewesen, aber längst nicht so drückend. Emotional und unbeholfen fühlte es sich seiner Zeit an. Heute schien es, als würde Rationalität die Hoffnungslosigkeit zeichnen. Viel realer. Es war unmöglich zu entkommen. Doch damals war die Freiheit nur ein paar Morde und etliche befreiende Tränen entfernt.
Sie war nicht gekommen, um zu bleiben, dass stand fest. Vielleicht würde sie einfach von diesem Balkon springen. Unwahrscheinlich, dass sie dabei starb. Sie würde sich vermutlich einige Knochen brechen, aber vielleicht würde der Schmerz sie ja aufwecken...
"Ich bin erst seit einigen Stunden wieder hier und schon habe ich eine aufgerissene Lippe und kann kaum noch richtig laufen...- Ich weiß nicht mal, was passiert ist. Und du bist auch schon wieder im Krankenflügel." Es waren nichts als die Tatsachen, aber sie erwartete, dass er irgendetwas antworten würde, dass er ihr ein bisschen Klarheit verschaffen würde. 
"Es wird niemals anders sein." sagte er nur und fügte nach einer Pause stirnrunzelnd hinzu "Es hat sich nur geändert, dass du deine Wunden jetzt mit Gift säuberst...und du kämpfst nicht mehr so gut."
"Alles ist Gift." wehrte sie ab und schaute wieder abwesend in die Ferne, weinte fast, weil sie die Freiheit nicht mal mehr riechen konnte. 
"Dieser Junge" dachte sie sich, "Wir waren uns mal so ähnlich. Jetzt habe ich nicht mal mehr Lust ihn zu beeindrucken".
"Warum bist du wieder da? Wegen mir wohl nicht" meinte er resigniert. 
Sie legte den Kopf in den Nacken um die Sterne zu sehen. "Weil ich wünschte ich wäre wegen dir hier". Sie verlor sich in Gedanken und redete mehr mit sich als mit ihm. "Ich wünschte ich wäre wegen dir hier. Und auch wegen meiner Freundin aus Kindertagen. Ich wünschte ich wäre hier um mich an der Welt zu rächen. Ich wünschte es wäre eine Flucht. Ich wünschte ich könnte all den Schmerz von damals fühlen - aber er ist einfach nicht mehr real".
"Aber ich bin real" protestierte er. 
Ernst und traurig sah sie an, weil er es nicht verstand und sagte mit Tränen in den Augen "Das ist nur leider vollkommen egal...ich bin nicht da. - Nicht das "Ich",das wir beide gerne sehen würden." Schnell waren die Tränen wieder versiegt. 
"Ich liebe die Nacht". Ihre Hände klammerten sich an das Geländer, die Beine baumelten. Unter ihr der Boden.
"Weißt du, dass ich immer versucht habe, dir alles zu sagen, was ich weiß? .. -  Inzwischen, weiß ich kaum noch, wie du heißt". 
Es war nur die Wahrheit. Der Schock saß, doch er blieb bei ihr. "Wieso?"
"Wenn du gewollt hättest, hättest du dich befreien können. - Doch das hast du nicht. ..Ich kann nicht stehen bleiben. Und beständig zurückschauen sollte man auch nicht". 
Wut schlug sich in seiner Stimme nieder "Und nun bist du DOCH wieder hier". 
Er hatte recht. "Jaaa...nun habe ich doch zurückgeschaut, aber ich bin nicht stehengeblieben..sonst wären wir noch immer Freunde".
"Dass du überhaupt Freunde hast", regte er sich auf  "ist mir unbegreiflich!".
"Ich habe keine Freunde" meinte sie ruhig. 
Er wusste nichts mehr zu sagen, doch glücklich war er auch nicht. 
"Ich liebe dich". Seine Stimme war leise. 
"Nicht mich, aber wer ich war". Sie betrachtete ihre baumelnden Füße. "Und die Person, die ich war liebte dich auch...jedoch nicht genug um zu bleiben". 
- "Warum?" 
- "Warum bist du noch hier?" Kam ihre Gegenfrage. 
"Hier ist mein Platz". Gab er endlich zu. 
Es tat ihr weh. "Nein....Ich kenne dich. - Du gehörst nicht hierher!". 
- "Aber ich muss hier sein. Nicht für immer, aber...". 
- "Schon klar", sie lachte leise, aber es klang nicht glücklich "du bleibst wegen Mika". 
- "Nicht nur wegen ihr, aber ja - auch für sie. Auch für dich. An welchem anderen Ort hättest du mich suchen sollen?"
- "Ich habe dich nicht gesucht."
- "Bist du nicht froh darüber, dass ich jetzt bei dir bin?"
- "Doch" gab sie schließlich zu "aber es bringt auch nicht wirklich was". 
Irgendwo auf dem Gelände schien ein Kampf stattzufinden. Das würde noch Ärger geben. "Hier hat sich wohl doch ein bisschen was geändert, oder?" wollte sie wissen.
Er nickte nur. Nach einiger Zeit der Stille ergriff er wieder das Wort: "Ich habe dich vermisst".
Es fühlte sich nicht richtig an. Sie war weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart. Sie war nirgendwo, doch der Junge vor ihr war nett und sie hatte ihn nach wie vor lieb, obwohl sie ihn nicht kannte. Er war das einzig Warme in der Nähe. Obwohl es falsch war, sagte sie also lächelnd "Ich dich auch" und sie meinte es so. Irgendetwas in ihr meinte es ernst. 
Also ließ sie sich von ihm in den Arm nehmen und nahm in Gedanken schon Abschied von ihrer geliebten Nostalgie, während sie verzweifelt überlegte, wie sie nach Hause kommen sollte. - Und zwar nicht nur physisch, sondern auch mental, denn noch immer hielt er sie fest. "Ich habe dich lieb". "Ich dich auch" lachte sie glücklich in den Armen des vertrauten Fremden, der sie zwar ablenken, nicht aber beschützen konnte. 
Beide wussten, dass sie nicht bleiben würde, dass sie es nicht konnte. Ob sie sich wieder sehen würden? Ob es überhaupt wünschenswert wäre? 
Sie schloss die Augen. Und befreite sich sanft aus seinem Griff um zu gehen, bevor es zu spät wäre. Ihre Erinnerungen sollten bleiben wie sie waren - unverfälscht. Es war gut gewesen, dass sie diesen Ort damals verlassen hatte. - Und dieses mal würde es ihr leichter fallen zu verschwinden, denn es war ja nicht mehr ihr altbekanntes Leben, das sie verließ, sondern ein Leben, das sie nicht gewählt hatte, weil es sie nicht weiter gebracht hätte. Doch es wäre eine Lüge zu behaupten, dass sie nichts vermissen würde. Sie ließ noch einmal die wunderbaren Wege Revue passieren, die sie in ihr neues, reales Lebens gebracht hatten. Wie unwirklich, dass all das passiert war. 
Sie würde nun gehen. Er würde ihr stille Vorwürfe machen. Die berechtigte Angst, dass man sich zum letzten mal sieht, war dennoch kein Antrieb, sich zu verabschieden wie es der Freund verdient hätte. "Wir sehen uns" war ihre offensichtliche Lüge, auf die zwei sehnsüchtige Blicke folgten. 
Sie war glücklich als sie ging, als sie weg von ihm war und weg von diesem Gefängnis. Loszulassen fiel ihr leichter als gedacht. Sie freute sich auf ihr zu Hause. Der Weg war lang, doch dieses mal wusste sie wenigstens, welche Richtung sie einschlagen musste. Sie kannte den Weg und er war genau richtig für sie. Sie wusste, dass die Zweifel verflogen sein würden, wenn sie erst zu Hause war. 

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